Von Wolfgang Wulz
Für den Necknamen-Forscher ist es zunächst verwunderlich, dass über die Bewohner der angesehenen und ansehnlichen Stadt Murrhardt, bis 1806 sogar württembergische Oberamtsstadt, in den üblichen Annalen der schwäbischen Neckgeschichte keinerlei Eintrag zu finden ist. Hatte es doch in der lokalen Geschichte manchen Anlass gegeben, aufgrund derer man sich das neckische Maul hätte zerreißen können: Man denke nur an das Goldfieber, das in der Klosterstadt Murrhardt im Jahr 1772 unter kräftiger Mitwirkung des blitzgescheiten, hochgelehrten, aber zugleich auch umstrittenen Prälaten, Chemikers und Pietisten Friedrich Christoph Oetinger (1702 bis 1782) ausgebrochen ist.
Waghalsiges Projekt bringt gutgläubige Anleger ums Vermögen
Ursprünglich sollte zur Hebung des Wohlstands der überwiegend armen Bevölkerung nur ein stillgelegter Salzbrunnen als Saline wieder belebt werden. Daraus wurde unter Mitwirkung diverser Bergbauexperten und Spekulanten ein waghalsiges Goldbergwerksprojekt, durch dessen Scheitern auch viele gutgläubige Anleger ein Vermögen verloren.
„Christoph Wieland aus Vordermurrhärle redet nur noch von Geld und wird von den Leuten deshalb ‚Goldstoffel‘ genannt“, schreibt Reinhard Breymayer in der heimatgeschichtlichen Beilage „einst + jetzt“ der Murrhardter Zeitung (Juli 1982) anlässlich des 200. Todestags Oetingers. Der Murrhardter Stadtpfarrer, Abt und Prälat sprach damals davon, dass die Leute „von der alten Tradition eines Goldbergwerks angeflammt“ seien und sich „ihrer ein förmlicher Rausch bemächtigt“ habe. Als „am Ende des Tages“ nur schwefelhaltiges Eisenerz gehoben wird, mutiert der Vordermurrhärler „Goldstoffel“ im Volksmund rasch zum „Eisenstoffel“. Es blieb freilich beim individuellen Gebrauch des Unnamens für den Wielands Christoph, zu einem kollektiven Ortsnecknamen wie etwa „Murreder Gold- ond Eisestoffel“ kam es nie.
Man könnte nun mutmaßen, es habe an der vom Pietismus beeinflussten, zurückhaltenden bis humorlosen Art der Murrhardter gelegen, die für solcherlei Späße kein Ohr gehabt hätten. Dagegen spricht freilich der Eintrag in der Backnanger Oberamtsbeschreibung von 1871: „Auch in der Stadt selbst hat der Charakter der Einwohner in Vergleichung mit andern altwürttembergischen Orten immer noch eine etwas fränkischere Färbung beibehalten, die sich, wenn möglich, in Lebhaftigkeit, Heiterkeit und Geselligkeit äußert.“
Einen schönen Beweis dieser These stellt die erstaunliche Tatsache dar, dass im Jahr 1879 die neu gegründete Lokalzeitung den Namen „Der Hinterwäldler“ annahm. Offensichtlich gingen die Blattmacher davon aus, damit bei den Leserinnen und Lesern aus „em hentere Wald“, also der Großgemarkung rund um den Murrhardter Berg, heute eher als Schwäbischer Wald bekannt, anzukommen und eine gemeinsame Identität zu befördern. War doch die Einwohnerschaft in ganz außergewöhnlicher Weise neben dem Stadtkern auf 35 Parzellen verteilt, die teilweise ein gemeindliches Eigenleben führten. Bindeglied war aber die große Abhängigkeit vieler Bewohner von der Waldwirtschaft, deren harte, strapaziöse Arbeit auch den „kräftigen Menschenschlag“ zu „Ausdauer, Anstrengung, Fleiß und Sparsamkeit“ erzogen hat. „In den Parzellen beschäftigt das Zurichten von Weinbergpfählen, Schindeln, Wagnerholz, das Gartensessel- und Korbflechten, Besenbinden und die Köhlerei viele Hände; der Absatz geht in die Gegenden von Stuttgart bis Heilbronn. Handel findet statt mit Brennholz, Werk- und Nutzholz, Säg- und Bauholz, Holländerstämmen, Stangen, Pfählen, Wagnerholz, Eisenbahnschwellen, Schnittwaren und Kohlen. Für den Holzhandel befinden sich viele Frachtfuhrwerke in Stadt und Parzellen“ (Oberamtsbeschreibung).
Eine prächtige Tanne ersetzt
im Stadtwappen den Abtsstab
Nach der sogenannten Waldordnung wurden im 19. Jahrhundert noch lange Zeit die Erträge aus den Stadtwaldungen an die Bürger zunächst in Form von Bauholz oder als Holzscheite und Wellen abgegeben, später als geldliche Holzabgabe ausgezahlt. Kein Wunder also, dass 1810 im Stadtwappen der bisherige auf das Kloster zurückgehende Abtsstab durch eine prächtige Tanne ersetzt wurde.
So ausgestattet konnten es die „Hinterwäldler“ lässig wegstecken, wenn sie aufgrund ihrer ausgedehnten Waldnutzung auch als „Klämmerlesgäu“ bezeichnet wurden, was auf die Herstellung der hölzernen Wäscheklammern zurückgeht. Die ärmeren Waldbewohner mussten eben noch aus dem kleinsten Ast etwas Verkäufliches herstellen, um ihr Überleben zu sichern. Als „Stompeschpälter“ foppte man sie auch noch, weil sie sogar die Baumstümpfe ausgruben oder heraussprengten und sie danach zu Brennholz klein hackten.
Heute pflegt insbesondere die 1983 gegründete Narrenzunft „Murreder Henderwäldler“ die neckisch-närrischen Traditionen. Bis ins 16. Jahrhundert gehen närrische Fasnetumtriebe nachweisbar zurück und konnten auch durch die Reformation nicht so zurückgedrängt werden wie anderswo im protestantischen Württemberg. Fasnetsfiguren wie das „Hexeturmweible, dr Hotz ond dr Nachtkrabb, Wasserfratze ond dr Feuerbarthl“ erinnern alljährlich an Sagengestalten und denkwürdige Ereignisse.
Gründungsmitglied Christian Schweizer weiß auch genüsslich davon zu erzählen, wie der Remstalrebell Helmut Palmer, selbst ein gebürtiger „Ondertürkner Storchestupfer“ und bei den Geradstettener „Klammhôke“ beheimatet, anlässlich des Bürgermeisterwahlkampfs im Jahr 1986 in einer Rede vor dem Rathaus das Murrhardter Publikum als „Tannezapfehurgler“ beschimpft und damit auf eine damalige Einzelfigur der jungen Zunft angespielt hatte.
Deren Hintergrund wird so erklärt: „Die Zapfenpflücker oder Waldarbeiter sind hoch in die Baumwipfel gestiegen, um dort die noch frischen Zapfen zu pflücken, ein Hurgler hat sich diese Mühe gespart und die Zapfen nur als Brennmaterial eingesammelt. Allerdings wurden die Zapfen auch ‚grün‘ zu Heilzwecken verwendet. Ein gutes Mittel gegen Husten wurde daraus gewonnen und landläufig als ‚Dannezapfegoischt‘ oder ‚Dannezapfemooscht‘ (Sirup) verkauft. Mit großen Körben voller Zapfen sind sie immer aus dem Wald gekommen. Später bekamen dann ärmliche und rustikale Murrhardter Bürger den Necknamen Tannenzapfenhurgler. Hurgler ist die Bezeichnung für einen trägen, ungeschickten Menschen, einen Tollpatsch, einen, der überall nutzlos herumtrollt. Eigentlich meint ‚hurgeln‘ ja rollen, im übertragenen Sinne ist der ‚Hurgler‘ ein etwas Arbeitsscheuer, der sich geschickt durchs Leben mogelt und aus Langeweile eben einen Zapfen herumhurgelt.“
Wenn diese Armen (oder waren sie doch die wahren Lebenskünstler?) dann mit gefüllten Säcken in die Stadt kamen, um ein paar Pfennige mit dem Brennmaterial zu verdienen, wurden sie oft als „Dannezapfehurgler“ verspottet. Die heutige Fasnetsfigur ist daher als mittlerer bis älterer, ärmlicher und abgeschaffter Mann gestaltet, was sich sowohl in seiner abgerissenen Kleidung als auch in der Maske widerspiegelt.
Bitte richten Sie Hinweise zu den schwäbischen Necknamen an die Backnanger Kreiszeitung, Postfach 1169, 71501 Backnang, E-Mail necknamen- @bkz.de oder auch direkt an den Autor Wolfgang Wulz, möglichst per E-Mail an mundart@wulz.de oder per Post an die Adresse Goldregenstraße 6, 71083 Herrenberg.