Von Matthias Nothstein
WAIBLINGEN. Ein 40 Jahre alter Mann aus Backnang soll eine Zwölfjährige sexuell missbraucht haben. So lautet die Anklage, die gestern vor dem Schöffengericht Waiblingen vorgetragen wurde. Aber nach knapp zweieinhalb Stunden Verhandlung stellten sich dem Gericht fast mehr offene Fragen als zu Beginn. Zweimal wurde die Verhandlung für Beratungszwecke unterbrochen, um am Ende sogar vertagt zu werden.
Die Anklage ging davon aus, dass der Mann im November 2014 zwei Bekannte über einen Zeitraum von etwa zehn Tagen bei sich in einer Pension in Backnang übernachten ließ. Während eine Frau Ende 20 war, handelte es sich bei dem zweiten Gast um das spätere Opfer. Auf Nachfrage habe das Mädchen erklärt, es sei 16 Jahre alt und werde in den nächsten Tagen 17. Der Angeklagte sagte aus, er habe dies geglaubt, weil er das Mädchen auch schon zusammen mit der Mutter nächtens durch die Kneipen habe ziehen sehen. Eine Behauptung, die die Mutter später zurückwies. Sie habe das Kind nur tagsüber ins Café mitgenommen und lediglich an einem Geburtstag ein einziges Mal in eine Kneipe.
Der Angeklagte räumte ein, dass er in den ersten beiden Nächten das Mädchen befummelt habe. Er habe aber von ihm abgelassen, als er merkte, dass es das nicht wollte. Die weiteren Tage habe das Kind neben der zweiten Begleiterin geschlafen. Als er im Laufe der Zeit erfahren habe, dass seine Bekanntschaft erst zwölf Jahre alt sei, habe er ohnehin keine Absichten mehr gehabt. Anfang Dezember zogen die beiden Bekannten wieder aus. Erst Ende Dezember habe sich das Mädchen wieder über WhatsApp bei ihm gemeldet und Geld und Drogen gefordert. Andernfalls würde sie ihn anzeigen. So die Schilderung des Mannes.
Das Mädchen wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen. Seine Mutter jedoch schilderte, sie habe von ihrer Tochter erfahren, dass der Mann sie mit dem Finger vergewaltigt habe und sie nun schwer blute. Tatsächlich gibt es auf den Mobiltelefonen einen Chatverlauf mit entsprechendem Inhalt, der jedoch datiert vom 8. Dezember 2014 und somit über zwei Wochen nach dem angeklagten Vorfall. Trotzdem sagte die Mutter aus, sie habe umgehend die Kriminalpolizei verständigt. Und sie sei am Morgen nach dem Chat mit dem Kind für einen DNA-Abstrich ins Krankenhaus gegangen.
Die Aussagen der Mutter wiesen jedoch zahlreichen Ungereimtheiten auf. Nicht nur, dass sie erst zwei Wochen nach dem Vorfall informiert wurde, diesen aber als brandaktuell einstufte. Auch die Anzeige bei der Polizei passte nicht ins Bild. Der erste Kontakt datierte nämlich vom 28. Januar 2015, also über zwei Monate nach dem Vorfall. Und auf Nachfrage der Verteidigung kam heraus, dass auch nicht die angeklagte Vergewaltigung der Grund für den Gang zum Polizeirevier war, sondern die Tatsache, dass die Mutter ihre Tochter zu dieser Zeit nicht mehr im Griff hatte.
Die Vergewaltigung des Kindes
kam eher so nebenbei zur Sprache
Die 46-Jährige berichtete den Beamten, dass das Mädchen im Drogenmilieu verkehre. Und eher so nebenbei habe die Frührentnerin die Vergewaltigung ihres Kindes angesprochen. Mehr noch: Es kam auch zur Sprache, dass auch der Ex-Freund der Mutter die damals Zwölfjährige vergewaltigt haben soll. Auch den habe die Frau inzwischen angezeigt, das Verfahren sei aber noch nicht eröffnet worden.
Auf die Frage, warum es so lange gedauert hat, bis sie zur Polizei gegangen ist, sagte die Mutter, die Tochter habe sie gebeten, nichts anzuzeigen, da sie Angst vor dem Angeklagten habe.
Das Gericht zog sich nach der Aussage der Mutter zur Beratung zurück. Nach einigen Minuten erklärte der vorsitzende Richter, „wir tun uns in der Sache sehr schwer“. Er bot allen Prozessbeteiligten eine weitere gemeinsame Besprechung an, um in nicht öffentlicher Sitzung über das weitere Vorgehen zu beraten. Aber als Richter, Schöffen, Staatsanwälte und Verteidiger nach zehn weiteren Minuten wieder in den Saal kamen, waren sie immer noch ratlos. Der Richter sagte: „Wir haben versucht abzuklären, wie es weitergeht. Die Ermittlungen der Polizei in dem Fall waren oberflächlich, es besteht noch erheblicher Aufklärungsbedarf.“
So wurde angeregt, auch die zweite Frau, die während der zehn Tage beim Angeklagten übernachtete, als Zeugin zu befragen. Der Staatsanwalt sagte: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gar nichts von alledem mitbekommen hat.“ Die Anhörung der Frau war bisher nicht erfolgt, weil die zweifache Mutter nur schwer anzutreffen sei. Sie sei eine „schillernde Figur“ in der Szene und war sowohl dem Richter als auch dem Staatsanwalt und dem Verteidiger bekannt.
Für ein weiteres Verfahren wurde zudem ein Glaubwürdigkeitsgutachten über das Opfer gefordert. Dass der Prozess neu angesetzt wird hat zur Folge, dass das Kind nochmals neu vernommen werden muss. Der Verteidiger verteidigte dies jedoch mit dem Hinweis: „Es geht um viel. Wenn mein Mandant laut Anklage verurteilt wird, wandert er ins Gefängnis.“ Und auch der Richter wiederholte: „Die Widersprüche gehen weit auseinander. Es soll keinem Unrecht geschehen.“