Von Armin Fechter
BACKNANG. Morgen ist der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, ein Aktionstag, der seit 1992 jährlich am 5. Mai europaweit begangen wird. Für den 40-jährigen Simon Maier und die 25-jährige Jaqueline Riess ist dies der Anlass, sich bei einem Treffen im Club Paula in Backnang als Experten in eigener Sache vorzustellen. „Es gibt schon noch viel zu tun“, erklärt Maier. Inklusion ist für ihn ein Prozess, der nicht ins Stocken geraten darf.
Mit seiner Behinderung kommt Maier, der beim Kreisjugendring den Fachbereich Vielfalt und Inklusion vertritt, im Alltag ganz gut klar. Als gelernter Bürokaufmann hat er ab 2003 zunächst in der Buchhaltung gearbeitet, ehe er die Chance bekam, für Teilhabe zu werben und Inklusionsprojekte auf die Beine zu stellen. Maier kommt seitdem oft an Schulen, wo er immer wieder gefragt wird, ob er denn nicht traurig sei. „Ich bin ja nicht krank“, sagt er dann. Und: „Niemand kann alles, und das will auch keiner.“ Bergsteigen zum Beispiel: „Ich bin nicht sicher, ob jeder von euch das will.“ Sein Wunsch: „Dass ich gesund bleibe.“
Doch auch als versierter Rollipilot stößt Maier vielfach noch an Grenzen, sei es an Bahnhöfen oder in Gebäuden, die nicht barrierefrei zugänglich sind. Oder auch bei defekten Aufzügen. Nicht zu vergessen „die Barrieren im Kopf“.
Barrieren begegnet auch Jaqueline Riess. Die junge Frau lebt in einer Wohngruppe der Paulinenpflege in Winnenden und arbeitet seit fünf Jahren in den Backnanger Werkstätten im Metallbereich. Montieren, bohren, mit Maschinen umgehen, das ist ihr Ding. Gern würde sie noch eine Ausbildung im Metall- oder Holzbereich machen. In ihrer Hauswohngruppe fühlt sie sich wohl, denn die Kommunikation mit anderen Hörbehinderten funktioniert prima. Aber: „Draußen klappt es nicht so.“ Beim Einkaufen kann sich Jaqueline Riess zwar behelfen, indem sie ihre Wünsche auf Zettel schreibt oder beim Bäcker einfach auf die Brötchen deutet und die Anzahl mit den Fingern anzeigt. Ansonsten aber braucht sie einen Gebärdendolmetscher, um sich gegenüber Hörenden verständlich zu machen. Beim Gespräch ist deshalb Ulrich Bühner, Pfarrer und Sozialpädagoge von der Paulinenpflege, in vermittelnder Funktion dabei, zusammen mit Oliver Knell, Sozialraumbeauftragter der Paulinenpflege. Gebärdensprache, erklären sie, ist etwas Eigenes. Relativsätze oder Pluralformen gibt es nicht, es geht bei den Zeichen nur ums Wort an sich – es fließen aber Mimik und Gestik in die Gebärden ein. Deshalb braucht es viel Übung, diese Kommunikationsweise zu erlernen und sich darin auszudrücken.
Jaqueline Riess würde sich daher schon freuen, wenn mehr Menschen das Fingeralphabet beherrschen würden. Es besteht aus einfachen Zeichen, die mit der Hand und den Fingern gebildet werden, und Buchstabe um Buchstabe lassen sich damit Wörter bilden – eine einfache erste Hilfe fürs gegenseitige Verstehen.
Was Inklusion für den Einzelnen bedeutet, kann unterschiedliche Formen annehmen. Das machen die beiden Experten deutlich: „Ich wäre gern mit mehr Gehörlosen zusammen“, sagt Jaqueline Riess, „dann habe ich mehr Leute zum Reden.“ Für sie ist es von grundlegender Bedeutung, gut kommunizieren zu können – und da tun sich oft große Hürden auf. In Winnenden, wo viele Gehörlose und Hörbehinderte leben, hat sich schon einiges getan, es gebe in den Geschäften durchaus Leute, die zumindest ein wenig mit der Gebärdensprache vertraut sind.
„Behinderter und Gesellschaft müssen aufeinander zugehen“
Für Simon Maier ist klar: „Das muss man immer individuell sehen.“ Zum Beispiel bei der Inklusion in Schulen. Man müsse generell schauen, dass es beides gibt: Sonderschulen und Eingliederung in Regelklassen. Und wie weit Letzteres gehen kann, müsse man ausprobieren. Inklusion solle aber keine Einbahnstraße sein, auch der Behinderte selbst müsse sich beteiligen und dürfe sich nicht auf die Haltung zurückziehen: Nun inkludiert mich mal. Behinderter und Gesellschaft müssten aufeinander zugehen.
Klar ist für den Rollstuhlfahrer auch, dass ihm eine Welt ohne Treppen am liebsten wäre. Auf jeden Fall aber sollte es mehr Aufzüge geben – und vor allem Aufzüge, die funktionieren. Simon Maier kann ein Lied davon singen, wie oft Fahrstühle defekt oder aus undurchschaubaren Gründen außer Betrieb sind. Und wie lange es dauert, bis ein Techniker die Reparatur gemacht hat.
Der Kreisjugendring arbeitet daran, Barrieren abzubauen und Achtsamkeit und Sensibilität zu fördern – auch mit dem Projekt „Expert•innen in eigener Sache“. Vereine, Jugendhäuser, Schulen und Jugendverbände sollen für eine inklusive Öffnung gewonnen werden.
Wer als Experte im Projekt mitmachen oder Experten in seinen Verein, in Schulen oder Jugendtreffs einladen will, kann sich an Simon Maier wenden: Kreishaus der Jugendarbeit, Backnang, Marktstraße 48, Telefon 07191/9079-226, E-Mail simon.maier@jugendarbeit-rm.de.