Von Ute Gruber
BACKNANG. Bei guter Gesundheit feierte Otto Schlichenmaier im Alten- und Pflegeheim Staigacker am Sonntag seinen 100. Geburtstag. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde der Jubilar geboren. Im frommen Oberschöntal, einem Weiler aus stattlichen Bauernhöfen, nicht nur geografisch höher gelegen. In dem es damals dennoch weder fließend Wasser noch Strom gab. Er hat als Kind den Kühen das Wasser noch vom Dorfbrunnen geholt, saß mit Gesinde und Großfamilie am großen Küchentisch und trank im Schein der Petroleumlampe Zichorienkaffee vom Holzherd. Zu Weihnachten fuhr man mit dem schweren Pferdeschlitten inklusive Schellengeläut quer durch die Stadt zur Großmutter „sein Christkindle holen“: mit Jingle-Bells durch Backnang.
Als Jugendlicher mähte er noch mit der Sense und spannte die Pferde zur Feldarbeit ein. Er erlebte den Zweiten Weltkrieg als Soldat und ebenso bewusst den technischen Fortschritt in der Landwirtschaft und den Gesellschaftswandel bis hin zum Computerzeitalter. Vor Letzterem nahm er aber 1980 nach 30 Jahren bei der Landeszentralbank Stuttgart (LZB) als Personalchef „noch rechtzeitig den Absprung in die Pensionierung“.
Der passionierte Hobbyhistoriker – nach seiner Pensionierung besuchte er jahrelang Geschichtsvorlesungen an der Universität Stuttgart – hat seine Lebenserinnerungen kurzweilig in mehreren Bänden festgehalten, mit Schwerpunkt Ahnenforschung. Sorgfältig am Computer abgetippt von Schwiegersohn Dieter Eitel geben sie uns Nachgeborenen eine plastische Vorstellung vergangener Zeiten. Auch im Jahrbuch der Stadt Backnang stehen regelmäßig interessante Beiträge von Otto Schlichenmaier.
Bauer wurde er nicht: Mit 10 Jahren, 1926, bekam er eine schwere Angina, die zu einem Herzklappenschaden führte. Der Arzt riet zu körperlicher Schonung, der Bub wurde an der Realschule angemeldet und erlernte das Bankfach. Die Herzklappe musste dann tatsächlich ausgetauscht werden, jedoch erst 80 Jahre später: „So lange hat das Ding gehalten.“
Geschont hat er sich freilich nicht wirklich: Zum sonntäglichen Ritual gehörte nach der obligatorischen Bibelstunde eine Wanderung „nicht unter drei Stunden“. Oft mit Ehefrau Martha und den Töchtern Heide und Christel, gerne auch allein: „Ich bin ein typischer Einzelwanderer“.
„Regelmäßigkeit in der Unregelmäßigkeit des Lebens“ und „sich fordern, aber nicht überfordern“ nennt er auf Frage als Erfolgsrezept für sein langes, erfülltes Leben. Dazu einen Schutzengel: Der behütete ihn bei einer lebensgefährlichen Schussverletzung im Russlandfeldzug, über den er im Übrigen nicht gerne spricht. Auch beim Bombenangriff auf Backnang hatte er Glück: Weil er sich noch etwas Wärmeres anziehen wollte, kehrte er auf halbem Weg in die Stadt noch einmal um. Da kamen die Bombenflieger. Der Nachbar aber, den er kurz zuvor bei der Feldarbeit noch gegrüßt hatte, wurde tot nach Hause getragen.
Außerdem verfügt Otto Schlichenmaier über sehr viel Selbstdisziplin. „Der Vater ist ein Kämpfer.“, wie Tochter Heide es treffend beschreibt. So ließ er sich auch von einem Schlaganfall im vergangenen Jahr nicht entmutigen, sondern trainiert eisern mit der Therapeutin. Jetzt feiert er den 100sten Geburtstag im Staigacker, wo er sich „gut aufgehoben fühlt“, in großem Freundes- und Familienkreis – dazu gehören auch drei Enkel und sechs Urenkel sowie seine kleine Schwester Helene mit ihren 94 Jahren. Seit Wochen hat er über seiner Festansprache gebrütet, Tochter Christel hat sie ihm in Großbuchstaben abgetippt. Außerdem lernt er gerade Spanisch, um sich mit seinem hispanischen Schwiegerenkel besser unterhalten zu können.