Von Peter Schwarz
WINNENDEN/HEILBRONN. Dies ist der letzte lose Faden bei der juristischen Aufarbeitung des Winnender Amoklaufs: Jörg K. möchte erwirken, dass für einen Teil der Zahlungen an Hinterbliebene und die Stadt Winnenden, die eigentlich er und seine Versicherung zu tragen haben, das Zentrum für Psychiatrie in Weinsberg geradesteht. Grund: Tim K. war dort zwischen April und September 2008 bei fünf Gesprächs- und Untersuchungsterminen und äußerte gleich zu Anfang Tötungsfantasien. Hätten die Ärzte und Therapeuten darauf angemessen reagiert, wäre der Amoklauf zu verhindern gewesen, argumentiert Jörg K’s Anwalt Erik Silcher. Streitwert: vier Millionen Euro.
Die Verhandlung beginnt äußerst unbefriedigend für alle, die sich Aufklärung versprochen haben. Die Weinsberger berufen sich auf ihre ärztliche Schweigepflicht – und auf der anderen Seite ist der Kläger nicht erschienen: Anwalt Silcher überreicht dem Gericht etwas, das er „Attest“ nennt; Jörg K. sei krank. Richter Rieger studiert den Schrieb irritiert: „Das ist kein Attest, sondern nur eine nicht sehr aussagekräftige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.“ Silcher zerknirscht: „Mehr kann ich nicht vorlegen.“ Rieger schicksalsergeben: „Das überrascht uns. Aber wir können’s nicht ändern.“ Ob dafür wenigstens doch die Weinsberger etwas sagen wollen? Deren Anwältin Monika Baumhackel kontert: „Ich bitte, unsere Entscheidung zu akzeptieren – umso mehr, als der Kläger nicht erschienen ist.“
So muss Professor Helmut Remschmidt sein Gutachten nach Aktenlage abgeben, vor allem anhand der Aufzeichnungen, die in Weinsberg während Tim K’s Behandlungszeit angefertigt wurden. Dass es sich dabei großteils nur um handschriftliche Stichwortnotizen handelt, um nicht zu sagen Schmierzettel, macht den Job nicht leichter. Immerhin, Remschmidt, 77, ist eine Koryphäe: Der frühere Direktor der Marburger Uni-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist laut Wikipedia einer der „weltweit bekanntesten Vertreter seines Faches“.
Beim ersten Gespräch in Weinsberg offenbarte Tim K. im April 2008: Manchmal überfalle ihn ein „Gedankenkreisen“, er fühle dann einen derartigen „Hass auf die Menschheit“, dass er nicht mehr von der Vorstellung loskomme, „andere Menschen umzubringen“, zu „erschießen“.
Hakte die Psychotherapeutin angesichts einer derart alarmierenden Äußerung nach? In den Aufschrieben gibt es darauf keinen Hinweis. „Eigentlich“, findet Remschmidt, „fragt man da natürlich: Womit willst du jemand erschießen? Andererseits hat weder der Vater noch die Mutter“ während der Behandlungsphase je „etwas erwähnt“ von all den Pistolen und Gewehren im Hause K. in Leutenbach-Weiler zum Stein. Über Waffen „hat keiner geredet“: Das war ein „Versäumnis von beiden Seiten“.
Vor allem für die Therapeutin aber bringt Remschmidt Verständnis auf: Die Tötungsfantasie sei ja nur eine „abstrakte Äußerung“ gewesen, keine „konkrete Ankündigung; Gedanken, jemanden umzubringen, sind in der Adoleszenz relativ häufig“; und selbst wenn die Frau gründlich gebohrt hätte, wie ernst es Tim mit seinen Mordgedanken sei, „ist unklar, was bei einer intensiveren Befragung herausgekommen wäre“.
Vielleicht hätte der Junge gemauert. Kurzum: „Nach Waffen hätte ich schon gefragt“ – aber „als groben Behandlungsfehler kann ich das nicht sehen.“
Mancherlei lief nicht rund in Weinsberg: Oberarzt und Therapeutin einigten sich zum Beispiel auf die Diagnose „soziale Phobie“, also angstbeladene Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Für diese Einschätzung habe es zwar „einiges an Symptomen“ gegeben, „aber nicht das volle Bild“, findet Remschmidt und erweist sich als Meister der Feinabstufung: Eine „Fehldiagnose“ sei das nicht gewesen; nur eine „nicht ganz zutreffende Diagnose“. Für entscheidend indes hält er das sowieso nicht, denn: „Es gibt überhaupt keine Diagnose, die eine Amoktat voraussagen lässt.“
Zusammengefasst: Trotz der „Versäumnisse, die in der Klinik durchaus stattgefunden haben“ – den Vorwurf, dass die Schreckenstat nur möglich wurde, weil Ärzte und Therapeuten Fehler begingen, will Remschmidt nicht erheben. „Der Waffenzugang zu Hause, das war die Kausalität. Man hätte es verhindern können, wenn er nicht an die Waffen gekommen wäre.“
Das Schadensersatzbegehr von Jörg K. steht nach diesem Experten-Wort auf brüchigem Grund. Seinen Anwälten gelingt es schließlich per Antrag zwar, die Weinsberger doch noch zum Reden zu bringen; aber auch das ändert nichts am Gesamtbild, eher im Gegenteil. Die Psychotherapeutin nämlich sagt, Tim K. habe seinerzeit nur „ganz grob Fantasien“ geäußert – und sie habe daraufhin „immer wieder nachgefragt“. Allein, Tim habe seine Gedanken „nicht konkretisiert“ und „später“ in einer Folgesitzung gar „gesagt, es ist nicht mehr so, die Gedanken sind nicht mehr da“. Im Übrigen: Sie habe ihn und auch seine Eltern ausführlich nach den Hobbys des Jungen gefragt – niemand habe ihr von Waffen erzählt.
Man mag über die Glaubwürdigkeit dieser Äußerungen grübeln, man darf sich zumindest wundern, dass nichts von alledem in den schriftlichen Notaten steht. Aber etwas Habhaftes in der Hand haben die Anwälte von Jörg K. nach dieser Beweiserhebung nicht. Richter Rieger wird das Urteil am 26. April verkünden.