Von Annette Hohnerlein
MURRHARDT. „Es war einmal...“: Diese Worte öffnen das Tor in die magische Welt der Märchen. „Wenn wir diese Formel hören, sind wir bereit, den Kopf auszuschalten. Das macht die Faszination von Märchen aus“, erläutert Jana Raile. „Man kann Märchen nicht verstehen, man muss sie erfühlen und erleben. Sie erzählen vom Leben, das den Tod beinhaltet. Der Märchenheld ist ein Wanderer zwischen den Welten, er kann aus dem Jenseits zurückkehren.“
Raile steht alleine auf der Bühne, neben ihr ein Tisch mit brennenden Kerzen, nichts weiter. Sie braucht keine Requisiten, keine Kostüme, keine Musik und auch kein Buch, sie trägt die Märchen auswendig vor. Dabei nimmt sie ihre Zuhörer an die Hand und führt sie weit hinaus aus dem Hier und Jetzt, in eine geheimnisvolle und gleichzeitig aus Kindertagen vertraute Welt mit Königen und Prinzen, Feen und Zwergen, sprechenden Tieren, goldenen Bechern und verzauberten Schwertern.
Die Rahmengeschichte bildet das Grimm’sche Märchen „Das Wasser des Lebens“, das von drei Königssöhnen handelt, einem guten und zwei bösen, die losreiten, um für ihren todkranken Vater das heilende Wasser des Lebens zu finden. In die Geschichte eingebettet sind weitere Märchen: Klassische wie „Dornröschen“, tragische wie „Der Gevatter Tod“ und ausgesprochen komische wie „Die Lebenszeit“.
Jana Raile hat in hohem Maße das, was man Bühnenpräsenz nennt. Vom ersten Moment an zieht sie die Zuhörer in ihren Bann. Mit beschwörender Stimme erzählt sie die Handlung, mit wenigen, aber expressiven Gesten schlüpft sie in die Rollen der Figuren, in dramatischem Gestus hebt und senkt sie die Stimme, gekonnt setzt sie die Akzente und platziert Pausen. Als Zuhörer kann man sich nur schwer der Faszination dieses dynamischen Erzählstils entziehen, und man will es auch gar nicht. Genüsslich lässt man sich fallen in das Vergnügen, dass einem jemand eine Geschichte erzählt. Wäre man noch ein Kind, man würde mit offenem Mund lauschen und gedankenverloren in der Nase bohren.
Raile fand früh zu ihrer Berufung. Mit 17 Jahren erlebte sie zum ersten Mal live einen Erzähler, mit 18 stand sie selbst auf der Bühne. Ihre Ausbildung zur Krankenschwester brach sie ab, weil ihr klar wurde: „Ich will den Menschen Geschichten erzählen.“
Im Alter von 23 Jahren machte sie sich als Erzählkünstlerin selbstständig und tritt seit mittlerweile 24 Jahren deutschlandweit bei privaten und öffentlichen Veranstaltungen auf. Sie hat die wohltuende Wirkung von Märchen auf kranke und trauernde Kinder erfahren und einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf den Einsatz von Märchen in der Hospizarbeit gelegt. Zu dem Thema sind zwei Bücher von ihr erschienen.
Der Kinder- und Jugendhospizdienst Sternentraum begleitet derzeit über 30 Familien im Rems-Murr-Kreis, in denen ein Kind oder Elternteil lebensverkürzend erkrankt oder verstorben ist. Koordinatorin Ute Eilers erzählt: „Wir arbeiten viel mit Märchen. Sie sind oft eine Brücke zu den Kindern, darüber kommen wir mit ihnen ins Gespräch. Ihre Seele wird gewärmt.“ Im zweiten Teil der Veranstaltung sprach Raile mit den Zuschauern über Symbole und Bilder in den zuvor erzählten Märchen. Die Szene in „Das Wasser des Lebens“, in dem der jüngste Königssohn beim Verlassen des Schlosses im letzten Moment durch die zufallende Tür ein Stück seiner Ferse verliert, sei ein Bild dafür, dass der Mensch die Konsequenzen seines Handelns tragen muss.
Die drei Königssöhne mit ihren verschiedenen Eigenschaften seien ein Symbol für den menschlichen Charakter: „Da sind Anteile in jedem von uns.“ In „Der Gevatter Tod“ begegnet einem ein weiteres faszinierendes Bild: Eine unterirdische Höhle voller flackernder Lichter in unterschiedlichen Größen, die für die verbliebenen Lebenszeiten der Menschen stehen. Nach einem inspirierenden Abend entlässt Raile ihre Zuhörer mit den Worten nach Hause: „Was haben wir alles erlebt in dieser Stunde. Es war, als hätten wir die Zeit außer Kraft gesetzt.“
