Von Florian Muhl
BACKNANG/BORKEN. Eine Woche Tauschreporter: Fünf Arbeitstage lang als Vertreter der Schwaben im Westmünsterland bei der Borkener Zeitung. Das war wirklich spannend. Begegnet sind mir in dieser Zeit ausschließlich liebevolle und herzensgute Menschen. Schade, dass mein Einsatz schon zu Ende ist.
Herzlich der Empfang in der Redaktion der Borkener Zeitung (BZ) zu Beginn. Redaktionsleiter Sven Kauffelt rät: „Hier ist das ganze Land platt, nicht so hügelig wie bei euch um Stuttgart rum. Da ist das Fahrrad das ideale Fortbewegungsmittel.“ Also auf zur Tourist-Info. Ein Fahrrad gibt’s dort für 6,50 Euro am Tag. Super, das nehm ich, gleich bis Freitag.
„Fahr einfach los und schau, was dir als Schwabe hier auffällt und spüre Geschichten auf“, so lautet mein Auftrag aus der Redaktion. Ich wähle Velen, rein zufällig, eine Stadt mit 13000 Einwohnern, 14 Kilometer von Borken entfernt, und trete in die Pedale. Nach einigen Hundert Metern die Erkenntnis: Hätte ich vorher die Windrichtung beachtet, hätte ich wahrscheinlich die entgegengesetzte Richtung gewählt. Denn ich habe Gegenwind. Das bekomme ich zu spüren. Denn mein Rad vom Typ „Holland“ setzt eine aufrechte Sitzposition voraus. Zum Glück ist hier wirklich alles flach. So erschlage ich die Kilometer mit meinen drei Gängen. Wobei der erste leider nicht funktioniert. Einstellungssache, denke ich doppelsinnig.
Ich lande im Ortsteil Ramsdorf. In der Ortsmitte höre ich vergnügliche Kinderstimmen. Es sieht witzig aus: Hinter einem blickdichten Holzzaun steht im Garten offensichtlich ein Trampolin, auf dem eine Handvoll Mädchen im Grundschulalter hüpft. Immer wieder taucht ein Gesicht hinter dem Zaun kurz hervor und verschwindet dann sofort wieder. Auch die Kinder entdecken mich und fordern mich auf: „Sag mal Hallo.“ Mein „hallo Mädels“ quittieren sie mit amüsiertem Gekichere. Ein kreisrundes Schild an der Hauswand erweckt meine Neugierde. Auf einer alten Baumscheibe steht über zwei aufgeklebten Pinseln: „Atelier CE“. Was steckt dahinter? „Ist eure Mama da?“, frage ich die Mädchen. Eines verschwindet und kommt im nächsten Moment wieder: „Die kommt gleich.“ Claudia Ebbingöffnet mir freundlich die Tür. Ein Porträt der 48-jährigen Malerin ist meine erste Geschichte in der BZ.
Wieder auf dem Sattel zieht’s mich Richtung Osten. Ich habe den Tipp bekommen, dass ich mir den offenen Landhausgarten Borggreve-Sommer in Nordvelen anschauen solle. In Velen angekommen, suche ich im Norden nach entsprechenden Hinweisschildern, werde aber nicht fündig. Mein Fehler. Ein älterer Herr klärt mich auf: Nordvelen ist ein eigener Ort. „Fragen Sie dann noch mal beim Gasthaus Rappers nach.“
Also wieder aufs Rad. Zum Glück kein Gegenwind. Dafür unendlich viel Natur. Strampeln ist angesagt. Aber es geht auch ohne „E“ beim Bike. Ich überhole zwei Skater. Offensichtlich eine Mutter mit ihrem Sohn. Und da ist ja schon das Gasthaus Rappers: „Heute Ruhetag.“ Okay, dann frage ich doch die ältere Dame, die ich ein paar Meter weiter vor ihrem Haus entdecke. Sie lächelt und antwortet auf Platt. Ich verstehe nur Bahnhof. Aber ihr Arm zeigt eindeutig in die Richtung, aus der ich gerade angeradelt kam – also zurück. Ein bisschen „E“ im Bike wär jetzt doch nicht schlecht, denk ich. Mir kommt die skatende Mutter mit ihrem Sohn schmunzelnd entgegen. Was die jetzt wohl denkt? Hätte ich sie doch vorhin nach dem Weg gefragt, denk ich.
„Herr Muhl, wenn ich das Ihrer Frau erzähle, dass Sie gleich am ersten Abend hier mit zehn Frauen angeradelt kommen.“
Über weitere Umwege erreiche ich das gesuchte Anwesen. Die Pforte öffnet sich. Ein attraktiver Mann mit längeren hellblonden Haaren und Dreitagebart öffnet mir die Pforte. „Die Hunde machen nichts“, sagt Christian Borggreve mit ruhiger Stimme. Die beiden Terrier sind wirklich lieb. Auch wenn an diesem Tag nicht geöffnet ist, lädt mich der 51-Jährige zur Gartenbesichtigung ein. Er hegt und pflegt den Garten. „Aber ich finde alles nur schön“, sagt er. Richtig erklären könne mir sein Mann Marc Sommer alle Pflanzen. „Der kennt jeden Namen, auch die lateinischen.“ Er würde jeden Moment nach Hause kommen. In der Zwischenzeit zeigt mir Borggreve ein Fotoalbum. „1999 sind wir hierhergekommen. Hier war kein Baum, kein Strauch, kein Garnichts, nur zwei Birken, Brennnesseln und Disteln. Nur wilder Acker.“
„Mein Mann und ich, wir haben uns 14 Tage gekannt und sind dann hier zusammengezogen. Dieses Haus hatte eine Freundin von uns, die aber selbst hier nicht bleiben wollte.“ – „Das war wirklich Glück für uns“, bestätigt Marc Sommer, der inzwischen eingetroffen ist. Er führt mich über einen kleinen Vorgarten mit Stauden und Rosen vorbei an einem kleinen Teich mit schmuckem Springbrunnen zum barocken Gemüsegarten, „in ganz formaler, klassischer, Münsterländer Form“, wie der 48-Jährige sagt. Entstanden ist er vor zehn bis zwölf Jahren. „Vorher haben wir diese Fläche für unsere Schafe benutzt“, so Sommer. Angrenzend haben die beiden Gartenliebhaber Stauden- und Rosenbeete angelegt, alle farblich sortiert, hier die gelb blühenden Pflanzen, dort Pastelltöne mit Rosa und Purpur. Borggreve und Sommer haben auf einer Fläche von 2500 Quadratmetern ihr Paradies geschaffen. An jedem vierten Sonntag im Monat steht die Gartenpforte auch Bürgern offen.
Auf der Fahrt zurück nach Borken wäre nun ein E-Bike wirklich nicht schlecht. Nur hätte ich dann wohl nicht jene Frauen-Radler-Gruppe getroffen, die mich spontan zum Schnaps, zum Anis, einlädt. Neugierig, wie ich bin, frage ich die zehn Damen, was für eine fröhlich-gelaunte Truppe sie sind. „Wir sind die Nachbarfrauen von Gemenkrückling. Alle vier Wochen treffen wir uns. Im Winter wird gekegelt und im Sommer machen wir Radtourchen“, erläutert Elisabeth Weddeling, die diesmal die Tour organisiert hat. „Wir sind heute sogar vollzählig. Nur die drei Alten, pardon: die Seniorinnen, warten schon im Gasthaus.“ Ich habe auch Hunger. Spontan laden mich die Borkener Frauen ein, doch mitzukommen. Wo geht’s hin? „Haus Waldesruh.“ Ich muss lachen. Das ist doch für diese Woche meine Unterkunft. Dort angekommen, muss auch Hotel- und Restaurantchef Hubert Lüttgens lachen: „Herr Muhl, wenn ich das Ihrer Frau erzähle, dass Sie gleich am ersten Abend hier mit zehn Frauen angeradelt kommen.“ Beim Abendessen erfahre ich von den Damen, dass die Gemeinschaft im Jahr 1974 entstanden ist, auf dem Karneval. Damals seien sie sich alle noch fremd gewesen. Nach der Verköstigung von diversen Getränken sei man sich aber nähergekommen und habe beschlossen, regelmäßige Treffen zu veranstalten, zunächst abends bei Kaffee und Torte – und etwas Schnaps.
Das erste Ziel am nächsten Tag ist Heiden. Mich begeistert das Frei- und Wellenbad, das ich ausfindig gemacht habe. Junge Männer und Frauen in knallroten T-Shirts mit DLRG-Aufschrift am Beckenrand und rund 20 Kinder im Wasser, die fleißig ihre Bahnen ziehen – da will ich mehr erfahren. „Im Moment trainieren hier im 25-Meter-Becken drei Jugendgruppen für das Jugendschwimmabzeichen in Bronze und Silber“, erklärt Daniel Harke, Geschäftsführer der DLRG-Ortsgruppe Heiden. „Unsere Ortsgruppe hat knapp 400 Mitglieder“, sagt der 33-jährige Bankkaufmann, der auch deren Hauptaufgaben auflistet: „Das sind das Anfängerschwimmen, das Jugendschwimmen sowie die allgemeine Jugendarbeit.“ Am liebsten würde ich mich jetzt selbst ins erfrischende Nass stürzen. Aber ich bin ja nicht zum Vergnügen im Münsterland unterwegs.
Also schwinge ich mich wieder auf den Sattel meines Hollandrades und trepple gen Südwesten. Wieder begeistert mich unterwegs die unendliche Weite, die Landschaft mit Pferdekoppeln und Spargelfeldern, kleinen Wäldchen und verstreuten Gehöften. Am Ortseingang von Raesfeld, in einer ruhigen Wohnstraße, treffe ich auf etwa ein Dutzend Männer, alle Nachbarn des Ehepaars Schweers, die damit beschäftigt sind, einen etwa zehn Meter langen, gespannten Stacheldraht mit Tannenzweigen zu umwickeln. Was ist das denn? Das kenne ich nicht. Also ists eine Geschichte. „Wir binden einen Kranz“, rufen mir einige entgegen. Der Hausherr kommt mit zwei Flaschen auf mich zu und meint: „Wir feiern am Samstag silberne Hochzeit. Über 100 Gäste werden kommen.“ Dass bei uns im Schwäbischen eine Silberhochzeit überhaupt groß gefeiert wird, wäre mir neu. „Das Kranzbinden ist eine Münsterländer Tradition“, erklärt Karl-Heinz Schweers, während er mir einen Kräuterschnaps einschenkt. „Das beginnt eigentlich schon eine Woche vorher mit dem Kranzausmessen. Das ist eine hoch komplizierte Rechnerei, wo sehr viel Alkohol fließt“, schmunzelt der Jubilar. Während die Herren den Kranz binden, sitzen die Damen hinterm Haus und fertigen die Silberröschen.“ Auf dem Tisch zwei Waschkörbe gefüllt mit rund 300 aus Silberpapier und mit Draht gedrehten Röschen. „Meine Aufgabe ist es, die Damen mit Getränken und Schnittchen zu versorgen und natürlich Blödsinn zu erzählen, was bei so einer Runde immer dazugehört“, lacht Tamara Schweers. Na dann: Alles Gute zur Silbernen.
Mein letztes Ziel ist Reken. Im Ortsteil Bahnhof Reken begeistern mich riesengroße Landmaschinen. Ich komme ins Gespräch mit Josef Lütkewestrich. Der Landwirt nimmt mich ein Stück in einem seiner größten Schlepper mit. „Typisch fürs Münsterland sind Milchviehbetriebe, Schweinemastbetriebe und Ackerbaubetriebe.“ Von der Saat bis zur Ernte bietet er als Lohnunternehmer sämtliche Dienstleistungen an. Zudem unterhält er eine Reparaturwerkstatt. „Wir fangen im Januar mit dem Gülletransport an. Im März, April, Mai wird die Gülle dann ausgebracht und eingearbeitet. Danach werden Kartoffeln gepflanzt und Mais gedrillt.“ Wie der 56-Jährige sagt, liegen die Betriebs- beziehungsweise Flächengrößen im Münsterland bei durchschnittlich fünf bis zehn Hektar. Probleme bereitet den Landwirten in der Region laut Lütkewestrich einerseits das Wetter, andererseits auch die kurze Zeit, die zur Verfügung steht, um alle Flächen bewirtschaften zu können.
Dieser „Ausflug“ im Schlepper ist der krönende Abschluss einer spannenden Woche in Borken. Zeit, ein Fazit zu ziehen. Viele Gemeinsamkeiten habe ich entdeckt. Dort im Münsterland wie hier im Schwabenland sind mir ausschließlich nette, hilfsbereite und zuvorkommende Menschen begegnet. Gemeinsamkeiten auch bei den Zeitungen: Sowohl die Borkener Zeitung als auch die Backnanger Kreiszeitung werden seit weit über 100 Jahren von einer Verlegerfamilie geführt. Die Anzahl der Beschäftigten ist in etwa gleich. Auch die Auflagenzahlen sind fast identisch. Zudem sind auch die Städte Borken und Backnang in ihrer Größe in etwa vergleichbar.
Natürlich gibt’s auch Unterschiede, die mir aufgefallen sind. Vorneweg die Landschaft. Dort alles topfeben, im Ländle gibt’s immer irgendwo den nächsten Hügel, wenn nicht Berg. Aber beide Landschaftsformen haben ihren Reiz, den jeweils zahlreiche Urlauber jedes Jahr genießen. Dort ist Fahrradfahren angesagt. Das macht einen Riesenspaß. Und selten sind mir so rücksichtsvolle Autofahrer aufgefallen wie in Borken.
Was neu für mich war, ist der hohe Stellenwert der Schützenfeste und auch der Nachbarschaft. Wie Letztere gelebt wird, durfte ich bei zwei spontanen Begegnungen in Borken und in Raesfeld erleben. Bei meinen spannenden Terminen konnte ich nicht nur über den Tellerrand blicken, sondern im Heidener Freibad sogar über den Beckenrand. Ich durfte Orte erkunden und neue Perspektiven von außen finden. Mit großer Dankbarkeit – insbesondere für die Kollegen in der BZ-Redaktion – kehre ich ins Schwabenland mit unendlich vielen Eindrücken und neuen Impulsen zurück. Ich sage in Borken Tschüss und Ade.