Von Kornelius Fritz
Herr Dekan Braun, die evangelische Kirche feiert in diesem Jahr das 500-jährige Jubiläum der Reformation. Ist die Spaltung der Kirche denn ein Grund zum Feiern?
Braun: Ich würde unterscheiden zwischen dem, was an Inhalten in der Reformation transportiert wurde und den leidvollen Umständen. Was wir feiern, ist, dass Inhalte der ursprünglichen christlichen Botschaft durch die Reformation wieder ans Licht gekommen sind und in den Mittelpunkt gestellt wurden. Das Leid, das aus der Kirchenspaltung erwachsen ist, können wir natürlich nicht feiern.
Hätte es denn keine Alternative zur Kirchenspaltung gegeben? Immerhin war sie Auslöser für Krieg und Zerstörung.
Braun: Zu Kriegen und Zerstörung gibt es immer eine Alternative: Reformation heißt nicht Revolution. Luthers Ziel war auch nicht eine Kirchenspaltung – das muss man deutlich sagen –, sondern eine Erneuerung der Kirche. Erst als seine Ideen in die Kirche nicht einfließen konnten, lief es auf eine Spaltung hinaus. Dass die dann auch mit Gewalt ausgetragen wurde, steht aber auf einem ganz anderen Blatt. Aus heutiger Sicht würden wir sagen: Das musste und das durfte nicht sein.
Herr Pfarrer Beck, aus katholischer Sicht war Martin Luther damals ein Ketzer und Spalter. Hat sich Ihr Blick auf den Reformator mittlerweile geändert?
Beck: Ja, natürlich. Luther war ein tief frommer Mensch, und das Anliegen, das er hatte, war durchaus berechtigt. Durch die Reformation wurden auch in der katholischen Kirche viele positive Dinge befördert. Die Geschichte können wir nicht zurückdrehen und vieles kann man aus heutiger Sicht nicht mehr verstehen, aber das müssen wir auch nicht. Wichtig ist für mich, was sich seit 1960 entwickelt hat. Wenn mir Leute bei goldenen oder diamantenen Hochzeiten erzählen, dass es vor 50 oder 60 Jahren noch hieß: „Du musst erst katholisch werden, sonst kannst du nicht kirchlich heiraten“, dann muss ich sagen: Die Ökumene ist ein wahrer Segen.
Braun: Da hat sich auch in der evangelischen Kirche viel geändert: Vor 100 oder 200 Jahren wurde tatsächlich noch die Spaltung gefeiert. Heute können wir sagen: Wir sind in vielem gemeinsam unterwegs. Wenn ich etwa ein katholisches Gesangbuch aufschlage und gleich das erste Weihnachtslied ist von Martin Luther, dann kann ich nur sagen: Klasse!
Beck: Wir sollten uns aber nicht zurücklehnen und sagen: Jetzt haben wir’s geschafft. Reformation ist ein lebenslanger Auftrag für die Kirche, das ist niemals abgeschlossen.
Auch die katholische Kirche hat sich während der vergangenen 500 Jahre verändert. So wurde etwa der Ablasshandel, den Martin Luther in seinen 95 Thesen scharf kritisiert hatte, bereits 1562 beim Konzil von Trient verboten. Müssen Sie dem Reformator dafür dankbar sein?
Beck: Ja, aber nicht nur wegen des Ablasshandels. Da gibt es noch viel mehr Dinge: Zum Beispiel Deutsch als Sprache in der Kirche, etwas mehr Nüchternheit, mehr Demokratie. Umgekehrt lernt die evangelische Kirche aber auch von der katholischen. Plötzlich pilgern auch evangelische Christen auf dem Jakobsweg. Man muss kein Prophet sein, um zu sagen, dass die Konfessionen künftig nicht mehr eine so große Rolle spielen werden.
Luther hat auch die Prunksucht der damaligen Päpste kritisiert. Der heutige Papst Franziskus gibt sich betont demütig und bescheiden. Würde Luther in der katholischen Kirche, wie sie heute ist, überhaupt noch Bedarf für eine Reformation sehen?
Braun: Ich denke schon: in der katholischen Kirche, aber auch in der evangelischen Kirche. Ich glaube nicht, dass er sagen würde: Prima, alles umgesetzt. Aber er wäre sicher zufrieden mit vielem, was sich in der katholischen Kirche bewegt hat.
Und was würde auf Luthers Thesenpapier im Jahr 2017 ganz oben stehen?
Braun: Ich denke, er wäre in manchen Dingen weniger vorsichtig und weniger zurückhaltend als wir und würde sagen: Mensch, traut euch was! Ihr habt Gott im Rücken. Was ich auch immer wieder versuche, von ihm zu lernen: Dem Volk aufs Maul zu schauen. Nicht so zu reden, wie die Studierten reden, sondern so, dass es die Leute verstehen. Ich denke, wir sind da heute manchmal zu verkopft und zu wenig emotional.
Der Philosoph und Medientheoretiker Norbert Bolz kritisiert in seinem Buch „Zurück zu Luther“, die evangelische Kirche schwimme zu sehr mit dem Zeitgeist-Mainstream. Dabei sei Luther mit seinem berühmten Zitat „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ genau für das Gegenteil eingetreten. Muss sich die Kirche wieder stärker auf traditionelle Glaubenswerte besinnen, selbst wenn diese unbequem und nicht mehrheitsfähig sind?
Braun: Absolut, das ist die Forderung des Evangeliums. Wenn man in der Nachfolge Jesu steht, dann muss man immer wieder gegen den Strom schwimmen. Ich weiß aber nicht, ob man es sich nicht zu einfach macht, wenn man sagt: Die Kirche schwimmt zu viel mit dem Zeitgeist. Das Bestreben der Kirche muss es sein, den Menschen zu dienen und ihnen nahe zu kommen. Trotzdem muss sie natürlich aufpassen, dass sie sich dabei nicht einfach anpasst.
Zur Wahrheit über Luther gehört auch, dass er ein leidenschaftlicher Judenhasser war. Auch den Islam sah Luther als Bedrohung. Liefert er damit nicht auch jenen Rechtfertigung, die heute das „christliche Abendland“ gegen fremde Einflüsse verteidigen wollen?
Braun: Ich habe kürzlich Wahlwerbung bekommen, in der es hieß: Luther würde heute NPD wählen. Das ist vollkommen daneben. Man muss das differenziert sehen: Luther war geprägt von seiner Zeit und seiner Umwelt. Dass er sich nicht mehr davon abgehoben hat, ist ganz sicher ein Makel, den man nicht einfach unterschlagen darf. Andere Reformatoren wie Johannes Brenz haben da sehr viel differenzierter argumentiert. Aber man darf auch nicht ganz verschweigen, dass „Jude“ damals noch Synonym für etwas anderes war. Das waren die Leute, die mit Geld umgegangen sind und bei denen manches nicht gerade gelaufen ist. Diese Kritik hat sich dann oft vermischt. Genauso wenig kann man das, was Luther über die Türken gesagt hat, eins zu eins auf heute übertragen. Die Türken standen damals vor Wien und waren eine direkte Bedrohung. Das war eine völlig andere Situation als heute und erklärt auch manchen Türkenspruch von Luther.
Beck: Man darf Luther nicht als einen Heiligen sehen. Bei allem, wofür man ihm danken muss, hat er auch schwarze Flecken. Aus meiner Sicht war Luther in erster Linie ein hervorragender Theologe, der sich später wahrscheinlich zu sehr in die Politik eingemischt hat.
Katholische und evangelische Kirche kämpfen mit denselben Problemen: Die Mitgliederzahl sinkt, viele empfinden die Kirche nicht mehr als relevant. Würden sich die nicht leichter tun, wenn sie diesen Herausforderungen gemeinsam begegnen würden?
Braun: Dass wir auf das gleiche Ziel zugehen, ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Auch in der evangelischen Kirche hat es eine Weile gebraucht, zu erkennen, dass das Heil auch außerhalb der eigenen Kirche zu finden ist. Bei allem, was wir miteinander fertigbringen, ist es aber auch gut, nicht zu vergessen, wo wir herkommen. Man kann das vielleicht mit zwei Handwerkern vergleichen: Wenn der eine Maurer ist und der andere Zimmermann, trägt jeder seinen Teil zum Bau des Hauses bei. Dafür ist es nicht nötig, dass beide Maurer oder beide Zimmermann werden.
Ein gemeinsames Abendmahl lehnt der Vatikan bis heute ab. Warum?
Beck: Man meint immer, da verändert sich nichts, aber das stimmt nicht. Auch an dieser Stelle verändert sich sehr viel. Im Jahr 2015 hat eine reformierte Christin den jetzigen Papst in Rom gefragt: „Jetzt bin ich schon so lange mit meinem katholischen Partner verheiratet, warum darf ich nicht mit ihm zur Kommunion?“ Und der Papst hat geantwortet: „Folgen Sie Ihrem Gewissen.“ Und sogar Joseph Ratzinger hat, als er noch Kardinal war, Roger Schutz (Gründer der Gemeinschaft von Taizé/d. Red.) die Kommunion gereicht. Ich denke, das Glaubenswissen ist an dieser Stelle schon weiter als das Kirchenrecht.
Braun: Wenn ich an die gemischt konfessionellen Ehepaare denke, die so etwas wie der Motor für die Ökumene sind, dann muss dieser Weg auch weiter begangen werden. Jesus sagt über die Ehe: „Und die zwei werden ein Leib sein.“ Da kann es auf Dauer nicht sein, dass eine evangelische Frau nicht mit ihrem katholischen Mann im Gottesdienst das Abendmahl empfangen kann.
Könnte der Weg der Ökumene eines Tages auch zu einer Wiedervereinigung der Konfessionen führen?
Braun: Ich träume davon, dass es in diese Richtung geht. Man muss allerdings auch sehen, dass die Landschaft heute deutlich differenzierter ist. Wir hier in Deutschland haben das Gefühl: Es gibt zwei große Kirchen, die ungefähr gleich groß sind. Aber wir sind fast das einzige Land auf der Welt, wo das so ist. Weltweit zählt die katholische Kirche mehr als eine Milliarde Mitglieder, der lutherische Weltbund nur etwa 70 Millionen. Wenn man dann noch sieht, dass die Kirchen im pfingstlerischen Bereich in Südamerika und Afrika immens wachsen, dann denke ich, wird die Frage der Zukunft gar nicht unbedingt nur die Annäherung zwischen Lutheranern und Katholiken sein. Sondern man muss eher sehen, wie geht Kirche insgesamt mit all den unterschiedlichen Strömungen um. Aber als Impulsgeber taugt Ökumene immer: Ein Konsens zwischen evangelischer und katholischer Kirche strahlt auch auf andere aus.
Halten Sie eine vereinigte Kirche für denkbar, Herr Pfarrer Beck?
Beck: Ich glaube schon, dass das irgendwann Wirklichkeit werden kann. Das theologische Gespräch darf dafür aber nicht ausbleiben. Es ist aus meiner Sicht sogar wichtiger, dass wir uns in der Theologie finden als bei äußeren Fragen wie dem Papst oder dem Abendmahl. Aber ich denke, hier ist der Weg das Ziel. Wer auf dem Weg ist und Hoffnung hat, der ist schon fast am Ziel.