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Triste Orte werden malerisch rehabilitiert

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Von Ingrid Knack

BACKNANG. Auf ausgedehnten Streifzügen durch deutsche Städte, insbesondere Bielefeld und Berlin, findet Jens Reinert seine malerischen Motive. Zum Beispiel die Schlosserei in seinem Geburtsort, die es genau so gibt. Es sind Kleinigkeiten, die er verändert – manchmal lässt er etwas weg oder es wird nur angedeutet. Ein wenig künstlerische Regieführung muss sein. Dazu gehört die stets neutrale Lichtstimmung. Ein eher fahles Licht und ein hellgrauer Himmel finden sich nahezu überall.

Im Hinterhof der Schlosserei stehen zwei Autos. Einzelne Fahrzeuge sind auch auf anderen, menschenleeren Gemälden zu sehen. „Autos stehen ein bisschen für die Menschen, die Bewegung“, so Reinert. Doch irgendetwas irritiert uns beim Betrachten. Ach ja: Wir sind die Stoßstange an Stoßstange geparkten Wagen (seh)gewohnt. Reinert drückt es so aus: „Diese narrativen Autos hat man eher selten.“

„Als Chronist der unsichtbaren, dem Passanten zumeist verborgen bleibenden Teile der Städte, richtet der Künstler seine Aufmerksamkeit auf Un-Orte, das heißt auf Architekturen und Verkehrsbauwerke, die rein dienende Funktionen übernehmen“, erklärt Simone Scholten von der Galerie der Stadt Backnang, die heute bei der Vernissage in die Ausstellung einführt. „Oftmals aus normierten Fertigbauteilen zusammengesetzt, sind diese Bauten genauso auch anderenorts zu finden und taugen damit als allgemeingültige Chiffren großstädtischen Lebens. Mit einem Satz: Jens Reinerts Bildmotive sind auf eine bestechende Art radikal normal.“

Und Reinert richtet seinen Blick auf die unterschiedlichen Farben, mit denen die Häuser(details) auf seinen groß- und kleinformatigen Bildern angestrichen sind, auf den abblätternden Putz, auf die mit Farbe überstrichenen Graffiti. Vielfach fanden auch Bäume, Sträucher oder anderes „rahmendes Grün“ Eingang in die Bildkomposition. Es sind zum Teil Bauten, die in den 1980er-Jahren von ambitionierten Architekten geplant wurden, „sie haben sich was gedacht dabei“. Was daraus geworden ist, will Reinert heute nicht kritisieren. Zumal er beim Malen die Dinge nicht bewertet – Kategorisierung in beängstigende oder angenehme Situationen gibt es bei ihm nicht. Und: „Mir geht es um die Ambivalenz: was man darüber denkt und was man sieht.“ Er fordert mit seinen Bildern auf, Strukturen zu erkennen und sich die auf den ersten Blick trist erscheinenden Orte ebenfalls anzueignen – es ist der Versuch, unwirtliche Orte zu rehabilitieren. Manchmal frage er sich, warum manche Gegenden einen guten Ruf haben und andere nicht. Oder warum mit der Zeit ein Stimmungswandel einherging, man aber nicht sagen könne, woran das liegt.

Im zweiten Stock der Galerie sind zudem einige ältere Stillleben zu entdecken. Motive sind etwa ein Kulturbeutel, Decken, Bücher und Schallplatten. Die Schallplatte „Daydream Nation“, das fünfte Studioalbum der Noise-Rock-Band Sonic Youth, das im Oktober 1988 veröffentlicht wurde, sticht fast augenzwinkernd heraus. Das Cover-Artwork stammt von Gerhard Richter, der zu den bedeutendsten Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts zählt. Die Platte hat sich Reinert in den 1980er-Jahren gekauft.

In seinen plastischen Arbeiten im Gotischen Chor und in allen Galeriestockwerken gräbt sich Reinert tief in die sichtbaren und verborgenen Strukturen der Städte hinein. „Er löst Siedlungsbauten oder Unterführungen, Brücken, Tunnel, Durchgänge oder Parkdecks aus ihrem städtebaulichen Kontext heraus und präsentiert sie, maßstäblich stark verkleinert, als in sich ruhende Körper von großer formaler Strenge. En miniature wirken die – im Alltagsleben oft als bedrohlich oder unangenehm wahrgenommenen – Bauten funktionslos schön und erinnern an Werke der Minimal Art. Auf diese Art ermöglicht Reinert dem Betrachter eine neue Wahrnehmung der Bauwerke, die im alltäglichen Gebrauch zumeist gar nicht mehr auffallen und von den Nutzern schlichtweg als gegeben hingenommen werden. Dabei sind es gerade diese unspektakulären grauen Architekturen, die das Gesamtbild der Stadt und nicht zuletzt auch das von ihr vermittelte Lebensgefühl in einem ganz erheblichen Maße mitprägen“, sagt Scholten. Plötzlich sieht man eine Unterführung, eine Rampe mit anderen Augen. Äußere Formen, die in der Realität verborgen sind, kommen ans Licht. Man hat das Gefühl, etwas verstanden zu haben, obwohl man es schon irgendwie wusste.


            
              Protagonisten der menschenleeren Szenerien sind die Fassaden von Siedlungsbauten oder Straßenzüge und Hinterhöfe in Wohn- und Gewerbegebieten der Städte: Jens Reinert in der Galerie. Fotos: P. Wolf

            
              Plastische Arbeit aus Beton: Strukturen von Gebäuden und Wege sind erkennbar. Eine der Variationen dieses Themas von Jens Reinert.

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