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„Jetzt könnt ihr euch verabschieden“

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Von Armin Fechter

BACKNANG. Amalie Speidel versprüht ein lebhaftes Wesen. Ihre kleine Wohnung ist voll von Bildern, Fotos und Andenken, viele davon Erinnerungsstücke, auf denen sie selbst zu sehen ist – mal zusammen mit Angehörigen, mal allein oder auch gemeinsam mit ihrem vor drei Jahren verstorbenen Ehemann. Jedes davon erzählt eine Geschichte aus dem 85-jährigen Leben der Frau: da die Urkunde, die an glückliche Urlaube in Millstatt in Kärnten erinnert, dort die Ölbilder, die ein Verwandter gemalt hat. Da Schwarzweiß-Aufnahmen aus ihrer Kindheit und Jugendzeit, dort ein Kruzifix.

Die Dame mit dem ergrauten Haar verblüfft Besucher mit ihrer munteren, frischen Art. „Schau!“, ruft sie und kramt in Unterlagen, und während sie in einem Buch blättert, bittet sie mit einem unkomplizierten „Wart amal!“ um Geduld. Eine Gehbehinderung, die auf eine heimtückische Entzündung in ihrer Kindheit zurückgeht, zwingt sie, einen Rollator zu benutzen. Mit der Gehhilfe flitzt sie aber behende von Zimmer zu Zimmer.

Gedenkblatt

für den verlorenen Bruder

Einen besonderen Platz in der nostalgischen Sammlung nehmen die wenigen Dinge ein, die an ihren Bruder Ernst erinnern. Dazu zählt ein Bilderrahmen mit Foto auf einem blauen Gedenkblatt.

Am 1. November 1929 wird der Junge als erstes Kind der Familie Lossa in Augsburg geboren. Amalie folgt 1931, eine weitere Schwester – Anna, die nicht mehr lebt – ein Jahr später. Die Eltern: jenischer Hintergrund, fahrende Händler. 1933 stirbt die Mutter, der Vater wird 1936 ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Drei Jahre später wird er zwar wieder entlassen, 1941 jedoch wegen seiner fahrenden Lebensweise und seiner Abstammung von neuem ins Konzentrationslager eingewiesen, nun nach Flossenbürg, wo er ein Jahr später stirbt.

Der kleine Ernst kommt mit den beiden Schwestern in ein Kinderheim in Augsburg-Hochzoll. Auf einem Foto sind die drei gemeinsam zu sehen – Amalie Speidel damals schon körperlich schwächer als die jüngere Anna, Ernst in der Mitte, ein aufgeweckt und freundlich dreinschauender Junge. Ab und zu können sie zusammen im Hof spielen.

Die Mädchen bleiben bis zum Schulabschluss in dem Heim, wobei Amalie wegen ihres Leidens noch für anderthalb Jahre außerhalb, in einem Sanatorium, gepflegt wird. Ernst jedoch wird im Februar 1940 von Augsburg ins Erziehungsheim Indersdorf bei Dachau überstellt – weil er als schwer erziehbar gilt.

„Er hat nicht gefolgt“, erinnert sich Amalie Speidel noch an die Zeit im Heim, Ernst habe geklaut und sei weggelaufen, er habe aber auch Angst vor den Nonnen gehabt, die im Heim arbeiten. Zur Strafe habe er Schläge bekommen und sei an einem Stuhl festgebunden worden: „Wir haben ihn immer so sehen müssen“, leidet Amalie Speidel noch heute unter den Eindrücken. Eines Tages steht er in aller Frühe vor dem Mädchenschlafsaal, angezogen und mit Köfferle. „So, jetzt könnt ihr euch verabschieden“, sagt die zuständige Aufsicht: Ernst komme weit weg, dort werde er es sehr schön haben. Das war das Letzte, was Amalie von ihrem großen Bruder gesehen hat. Einmal kommt noch eine Karte von ihm, auf der er schreibt, dass es ihm gut gehe. Aber erst viel später erfährt sie, was mit ihm wirklich geschehen ist.

Im Erziehungsheim Indersdorf, wohin man Ernst überstellt hat, gibt es neue Schwierigkeiten. „Er hat nicht pariert“, erzählt die Backnangerin, die das Buch von Michael von Cranach über Psychiatrie im Nationalsozialismus studiert hat. In dem Band, den der langjährige Leiter des psychiatrischen Klinikums Kaufbeuren als engagierter Aufklärer der Euthanasie-Verbrechen geschrieben und den er Ernst Lossa gewidmet hat, wird auch das Schicksal des Augsburger Jungen beschrieben: Über ihn wird ein Gutachten erstellt mit dem Ergebnis, dass er am 20. April 1942 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verlegt wird. Dort wird er schließlich am 9. August 1944 ermordet – man injiziert ihm die Todesspritze.

Viele weitere Details aus den beiden Jahren in Kaufbeuren sind aus dem Prozess gegen den Leiter der Einrichtung bekannt. So schilderten Mitarbeiter des Krankenhauses, dass alle Ernst Lossa geschätzt hätten, trotz mancher Schwierigkeiten in seinem Verhalten. Er sei liebenswürdig gewesen, hilfsbereit. Immer wieder wird auch erzählt, dass er über die Tötungen im Krankenhaus Bescheid wusste und dass er des Öfteren versucht hatte, hungernden Kranken Nahrungsmittel zu geben, die er in den Vorratskammern stahl. Es war wohl diese Unbotmäßigkeit, die dazu führte, dass sich der ärztliche Leiter und der Verwaltungsleiter für seine Tötung entschieden.

Das Schicksal von Ernst Lossa steht beispielhaft für die NS-Verbrechen. Zwischen 1939 und 1944 wurden in Folge des Euthanasie-Programms in den deutschen Nervenkliniken über 200000 Menschen ermordet. „Nebel im August“ greift dieses Thema auf. Regisseur Kai Wessel und Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt konnten sich dabei auf den gleichnamigen Tatsachenroman von Robert Domes stützen. Als historischer Berater fungierte Professor Dr. Michael von Cranach.

Als Ehrengast

zur Premiere eingeladen

Die Rolle des Ernst Lossa spielt Ivo Pietzcker. Über ihn sagt Amalie Speidel anerkennend: „Er ist wie mein Bruder.“ Zur Premiere des Films am morgigen Dienstag in München ist die Backnangerin als Ehrengast eingeladen. Und vielleicht nimmt sie auch die Einladung von Annegret Eppler zur Aufführung im Backnanger Kino Universum an. Dort läuft der Film ab dem 29. September.


            Amalie Speidel aus Backnang mit einem Gedenkblatt für Ernst Nossa: Ihr Bruder wurde im Alter von 14 Jahren in einer Klinik getötet. Foto: A. Becher

            Schildert das Schicksal von Ernst Lossa: Der Film „Nebel im August“ kommt in die Kinos.

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