Von Ingrid Knack
AUENWALD. Was ist es, das Christoph Sieber trotz der Themen, die seine Kollegen ebenfalls gerne durchnudeln, von vielen anderen Kabarettisten unterscheidet? Bei ihm sitzen wir nicht (nur) da und sehen uns bestätigt. Sieber zieht nicht genüsslich über die Schwächen der Politiker her, die wir alle schon selbst zur Genüge gesehen haben. Vielmehr pflanzt er mehr und mehr Unbehagen in unsere Seelen. Unbehagen über uns selbst.
Gehören wir nicht auch zu den Menschen in der Komfortzone, die nicht mehr aufstehen gegen die Ungerechtigkeit der Welt, gegen all die Manipulationen, obwohl es längst an der Zeit wäre? Auch wir geben uns dem Konsum hin auf Kosten anderer. Wir tragen die T-Shirts, die Menschen in anderen Ländern gegen ein Almosen für uns genäht haben, und wundern uns dann, wenn die Ausgebeuteten eines Tages zu uns kommen. Sieber spricht uns direkt an, da kann keiner in Deckung gehen und so tun, als ob er nicht gemeint wäre. „Es gibt die Unschuld des Nichtwissens nicht mehr.“
Siebers fünftes Kabarett-Solo ist immer wieder so richtig unbequem – das Schlimme dabei: Wir wissen, dass er recht hat. Dabei erweist sich der gebürtige Balinger als Meister des richtigen Timings. Nummern, die uns unbeschwert Lachen machten und solche, mit denen Sieber die Pointenquote nicht gerade erhöht, wechseln sich geschickt ab. So schlucken wir auch die Kröten.
Das Thema digitaler Fortschritt ist eine der vergleichsweise harmlosen Geschichten. Wenn Sieber, der seit September 2015 zusammen mit Tobias Mann die Kabarett-Late-Night-Sendung „Mann, Sieber!“ im ZDF moderiert, uns als „Halb Handy, halb Mensch“ bezeichnet und von der App erzählt, die uns vor Straßenlaternen warnt, damit wir nicht dagegenrennen, wenn wir immerzu auf unserem Smartphone herumtouchen, bekommt man die Distanz zum dort auf der Bühne Erzählten noch ganz gut hin.
Schwieriger wird’s da schon bei Sätzen wie „Der freie Wille wird das sein, was der Algorithmus uns an Wahlmöglichkeiten noch übrig lässt“ oder „Wir werden die Welt durch den Algorithmus nicht verstehen, wir werden uns nur genauer irren“. Dies fängt beim Kauf im Internet an und geht mit der Auswahl der Patienten für bestimmte Operationen weiter, wie der Träger des Deutschen Kleinkunstpreises 2015 uns erklärt. „Man spielt das Spiel einfach mit.“
Immer wieder warnt Sieber: „Keine Angst, der Tiefpunkt ist noch nicht erreicht.“ Nach einer genialen Rap-Nummer, in der die Komik auch darin besteht, dass Siebers Verrenkungen reichlich ungelenk rüberkommen (da kommt auch der studierte Pantomime ein Stück weit zu seinem Recht), wird es noch einmal so richtig ernst. Am Ende fragt der Kabarettist: „Was wird man über uns sagen in 20 oder 30 Jahren? Wer werden wir gewesen sein? Die, die zugeschaut haben, wie schon so oft?“ Werden wir die gewesen sein, die einfach weitergemacht haben, oder die, die doch noch rechtzeitig die Kurve gekriegt haben?
Sieber will sich nicht daran gewöhnen, „dass Deutschland eine Kriegsmaschinerie ist“. Er will sich nicht daran gewöhnen, „dass in diesem Europa das Recht des Stärkeren gilt. Wenn Hunderttausenden der Zugang zu Gesundheit, Bildung und einem würdevollen Leben verwehrt wird“. Auch nicht daran, „dass die Würde des Menschen antastbar ist, (...) die Würde des Menschen krepiert vor Lampedusa und die Würde des Menschen stirbt im Krieg. Und zwar in jedem Krieg, weil Krieg keine Würde kennt(...) Auf all die Fragen gibt es am Ende nur eine Antwort. Und die sind wir“.